Förderverein
Bildung für Kranke
Kinder und Jugendliche
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Sara

In einem fremden Land

Voller Verzweiflung und Angst in einem fremden Land stand ich am Fenster und sah das erste Mal ein kleines Stück Deutschland. Einige Wochen früher hatte ich noch in einem grauen, freudlosen Krankenhaus in meiner islamischen Heimat gelegen. Die Diagnose hieß Leukämie. Mit über 40 Grad Fieber war ich dann auf Fluchtwegen, von Unbekannten versteckt, nach München gelangt. Hier konnte ich mich in die Arme meines Vaters, den ich zwei Jahre nicht gesehen hatte, fallen lassen; von nun an fühlte ich mich von ihm getragen. Allerdings ging es mir so schlecht, dass er große Angst bekam und mich noch nachts in die Hauner’sche Kinderklinik brachte. Unter den vielen auf mich einstürzenden Eindrücken ist mir unvergesslich, wie die Tür zur Station geöffnet wurde: das war wie ein Traum: bunte Bilder, Wärme, ein guter Geruch, freundlichen Schwestern und Ärzte. Angst bekam ich erst wieder, als mein Vater gehen musste.Mit der Chemotherapie wurde bereits am nächsten Morgen begonnen; zwei Tage später besuchte mich eine sehr freundliche und nette Frau – ohne weißen Kittel. Mein Vater sagte mir, dass sie eine Lehrerin sei. Mit ihr bekam ich die Hoffnung, dass ich schon bald ein bisschen Deutsch sprechen können würde. Ich war sehr stolz auf mich, als ich schon nach kurzer Zeit die neue Schrift in Buchstaben und Zahlen lesen konnte. Sehnsüchtig wartete ich jedes Mal nach dem Fiebermessen darauf, dass ich statt meines Vaters der Schwester ein lautes „Siebenunddreißigeins“ entgegenrufen konnte. Obwohl meine Lehrerin, Frau Burmeister, versuchte, mir das Lernen zu erleichtern und mir gute Hilfen gab, war es doch manchmal sehr, sehr viel. Es gab auch Tage, an denen mein Mund so kaputt war und ich mich auch dermaßen schwach fühlte, dass ich nicht reden konnte. Dann haben wir statt Unterricht Musik- und Sprechcassetten gehört, was ich als sehr beruhigend und angenehm empfunden habe. Trotz aller Schwierigkeiten habe ich aber im Laufe dieser Monate vor allem auch durch die tägliche Unterstützung meiner Lehrerin sehr viel Selbstbewusstsein bekommen. Sie machte mir immer wieder Mut. Und als ich begonnen hatte zu zeichnen und zu malen, konnte ich endlich meine Gefühle ausdrücken; mein Vater, die Ärzte und Schwestern sahen, wie es mir wirklich ging. Denn um das in Worte ausdrücken zu können, brauchte es noch sehr lange. Ich weiß noch, dass ich mir jeden Abend sagte: Sara, du bist krank, du musst gesund werden! Sara, du bist in Deutschland, du musst Deutsch lernen!

Nach einem knappen Jahr war mein stationärer Aufenthalt im „Hauner“ beendet. In der Zwischenzeit war es meiner Mutter zusammen mit meiner jüngeren Schwester gelungen, ebenfalls nach München zu gelangen. So konnten wir vier als Familie wieder vereint in eine kleine Wohnung ziehen. Durch die Vermittlung meiner Krankenhauslehrerin fand meine Schwester schnell einen passenden Schulplatz. Ich blieb noch etwa ein halbes Jahr in täglicher ambulanter Behandlung im Hauner’schen Kinderspital und besuchte während dieser Zeit die Krankenhausklasse; mit dem anschließenden Einzelunterricht kam ich täglich auf vier Schulstunden. – Daneben durfte ich am Kunstunterricht der „Schule der Phantasie“, der einmal wöchentlich im Krankenhaus stattfand, und der Kunsttherapie meiner früheren Station teilnehmen. Für meine stolzen Eltern, die in der Heimat vieles zurücklassen mussten, war es sehr schwierig und oft deprimierend, wieder bei Null anfangen zu müssen. Auch sie wurden unterstützt, es wurden Wege gesucht und Pläne geschmiedet, um ihnen das Leben zu erleichtern; das nahm mir dann eine große Last von der Seele. Der Wechsel von meiner „zweiten Heimat,“ der Krankenhausschule, in eine Übergangsklasse mit vielen völlig fremden Menschen war entsetzlich schwer. Mir wurde dann in der 7. Klasse der Hauptschule endgültig klar, dass ich mich auf meine eigenen Füße stellen musste. Auch wenn immer wieder Gespräche zwischen meiner Krankenhauslehrerin und der neuen Schule stattfanden, auch wenn ich sogar noch „Nachhilfe“ von der Krankenhausschule bekam, – es war klar, ewig konnten diese Hilfestellungen nicht weitergehen. Fast gleichzeitig, ich besuchte jetzt die 9. Klasse, entwickelte sich auch bei meinen Eltern ein ähnliches Gefühl: Mein Vater bekam eine feste, anspruchsvolle Tätigkeit, die er sich immer gewünscht hatte, in einer Firma; meine Mutter begann, Deutschkurse intensiv zu belegen, meine Schwester erhielt den Übertritt ins Gymnasium. Ich schaffte den Quali mit einem guten Abschluss, – der Beweis für mich, dass ich mich nun auf mich selber verlassen konnte. Das Lebensgefühl in unserer vierköpfigen Familie hat sich zu dem früheren in der Heimat verändert, aber heute können wir doch alle wieder mit viel Hoffnung der Zukunft entgegensehen.

Vor der Krankheit bin ich die brave, nette, ruhige Sara gewesen. Heute empfinde ich bewusster und stärker Kraft, Lebensfreude und großes Vertrauen. Einige Jahre mussten vergehen, bis ich echte Freunde, die mich nehmen wie ich bin, gefunden habe.

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