Fr. Schüppert
Jessica
Barbara Schüppert
Realschullehrerin Schule für Kranke
Als ich zu Beginn meiner Arbeit an der Schule für Kranke Patienten auf der onkologischen Station einer Münchner Kinderklinik Mathematikunterricht erteilte, traf ich auf eine Gymnasiastin der 8. Jahrgansstufe, die ich hier Jessica nenne. Um mir ein Bild über den Wissensstand der Schülerin zu machen, ließ ich mir ihr Heft zeigen. Die zuletzt gemachten Aufgaben waren unvollständig und mir war klar, dass Jessica zu dem Thema große Lücken hatte. Als ich ihr die Zusammenhänge erklärte und die Aufgaben mit ihr besprach, hatte ich das Gefühl, dass sie sich freute, den versäumten Unterrichtsstoff nachholen zu können. Aber in den Folgestunden gelang es ihr nicht, sich auf die Aufgaben zu konzentrieren und sie lehnte den Mathematikunterricht ganz ab. Mangels Erfahrung konnte ich es mir nicht erklären, warum ich Jessica nicht motivieren konnte, was mir bei den anderen Patienten keine Mühe bereitete.
Zwei Jahre später war Jessica wieder in der Klinik, sie und ihre Mutter sprachen mich an. Jessica hatte die 8. Jahrgangsstufe wiederholt und war zu dieser Zeit in der 9. Klasse und, was ihre Krankheit betraf, erhoffte sie sich jetzt bei einem weiteren Klinikaufenthalt erneut Hilfe. Den Unterrichtsstoff in den Fremdsprachen erarbeitete sie selbstständig und in Mathematik und Physik wollte sie Unterricht von mir. Über mehrere Monate vereinbarten wir regelmäßig Unterrichtsstunden, in denen sie konzentriert mitarbeitete und gar nicht genug erfahren konnte, auch als es ihr gesundheitlich immer schlechter ging. So sehr sie sich auch an den Unterricht und damit am Leben fest klammern wollte; Jessica musste sich geschlagen geben. So, wie häufig in der Zeit vorher auch, um Termine abzusprechen, rief mich ihre Mutter an einem Sonntagabend an. Dies mal aber sagte sie nur: „Sie wissen schon?“, und nannte mir den Termin für die Beerdigung.
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